:Interview mit Max Ziem, Psychologischer Psychotherapeut von der TU Dresden
geführt von Jessica Gaszka, 17. Oktober 2024
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Am 06. Oktober 24 war europäischer Depressionstag. Max Ziem, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden und Psychologischer Psychotherapeut, forscht unter anderem zum Thema Depressionen und hat uns mehr zur WIVA-Studie erzählt. Ziel war es, einen Einblick in die Depressionsforschung zu bekommen.
Frage 1: Wie kam es zu dieser Studie und was hat Sie inspiriert?
Es gab zwei wesentliche Einflüsse. Zum einen mein wissenschaftliches Interesse an Verzerrungen in der Wahrnehmung, also wie unsere Wahrnehmung oft nicht der Realität entspricht. Zum anderen habe ich aus meiner therapeutischen Arbeit die Erfahrung mitgenommen, dass Menschen oft widersprüchliche Motivationen haben. Ein Patient ist mir da sehr lebhaft in Erinnerung. Wir waren an dem Punkt, an dem er erneut in eine depressive Episode gerutscht war.
Er zog sich wieder zurück und wir besprachen, was er tun könnte, basierend auf dem, was er in der Therapie gelernt hatte. Er sagte damals zu mir: „Naja, Herr Ziem, ich weiß, ich müsste wieder mehr mit Freunden machen, wieder mehr Rad fahren, wieder die Dinge tun, die mir wichtig sind. Aber wissen Sie, wenn ich das mache und die Leute treffe, dann muss ich ihnen ja erzählen, dass ich wieder depressiv bin und dass ich es nicht geschafft habe, dass das weg ist.“
Das illustriert sehr gut, wie Motivation häufig bei uns funktioniert. Es gibt Gründe dafür, etwas zu tun und Gründe dagegen – in der Psychologie bezeichnet man das als Annäherungs- und Vermeidungsmotive. Gesellschaftlich wird oft gesagt, depressive Menschen seien nicht motiviert, aber mein Beispiel zeigt, dass sie durchaus wollen – es gibt nur oft Ängste und Gründe, die sie hindern. Ich wollte verstehen, wie das bei Menschen mit depressiven Symptomen funktioniert und daraus entstand das Promotionsprojekt.
Frage 2: Können Sie uns mehr zu Ihrem Promotionsprojekt erzählen?
Das besteht aus zwei Studien. Einmal der EASI- Studie, die bereits gelaufen ist und deren Publikation derzeit vorbereitet wird. Und dann die WIVA-Studie, die einen stärkeren therapeutischen Fokus hat.
Wir wissen, dass Menschen mit Depression Aktivitäten oft doch genießen können, wenn sie sich einmal dazu überwunden haben. Das Problem liegt eher in der Erwartung, dass es ihnen keinen Spaß machen könnte, was dann zum Rückzug führt. Deshalb arbeiten wir in der WIVA-Studie mit Imaginationen, um diese Erwartungen zu verbessern.
Frage 3: Warum setzen Sie auf Imagination als Ansatz?
Imagination ist eine weitverbreitete Technik in der Therapie. Wenn ich zum Beispiel mit einer Patientin Ängste oder ein Trauma konfrontiere, stellt sich die Patientin diese während der Therapiesitzung auch vor. Der Unterschied bei Imagination in der Depressionsbehandlung ist, dass wir uns angenehme Aktivitäten vorstellen, um die Motivation dafür zu steigern. Imagination hilft dabei, Erwartungen ins Erleben zu bringen. Wenn wir uns etwas vorstellen, spüren wir es oft schon ein wenig. Das steigert die Motivation und die Einschätzung, dass eine Aktivität angenehm sein könnte. Es gibt bereits Hinweise, dass dies funktioniert, aber es ist noch nicht ganz klar, wie diese Imagination genau gestaltet sein muss, damit sie nicht nur Motivation steigert, sondern dazu führt, dass die Aktivität dann auch umgesetzt wird.
Frage 4: Was sind die Hauptziele der Studie im Detail?
Wir sind da durchaus bescheiden, es geht nicht darum, eine Therapie zu ersetzen. Die Hauptziele sind, zu untersuchen, wie Imagination die Motivation zur Umsetzung geplanter sozialer Aktivitäten steigert und wie sich das je nach Gestaltung der Imagination unterscheidet. Wir wollen auch herausfinden, welche Erwartungen durch die Imagination geweckt werden und wie sich diese von der tatsächlichen Erfahrung der Aktivitäten unterscheiden. Wir überprüfen das, nachdem die Teilnehmer ihre geplanten Aktivitäten umgesetzt haben, und werten aus, ob es dabei zu einer Verzerrung kommt. Eine häufige kognitive Verzerrung ist, dass Menschen erwarten, eine soziale Aktivität wird unangenehm oder anstrengend sein, und dann im Nachhinein feststellen, dass es eigentlich doch ganz gut war. Das wollen wir genauer untersuchen – welche Art der Imagination führt eher zu dieser Verzerrung und welche weniger? Das ist ein zentrales Thema unserer Forschung.
Frage 5: Wie erfassen Sie in Ihrer Studie die Erwartungen an soziale Situationen?
Zu Beginn des Projekts habe ich mich intensiv mit Modellen beschäftigt, die Erwartungen an soziale Situationen abbilden, vor allem in Bezug auf Annäherung und Vermeidung. Es gibt dazu aber wenig Forschung. Daher haben wir versucht, wichtige Motive für unser psychisches Funktionieren zu identifizieren und sind bei den psychischen Grundbedürfnissen gelandet. Wir nutzen das Modell der Selbstdeterminationstheorie von Deci und Ryan, das die Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und Zugehörigkeit für unser psychisches Wohlbefinden betont. In der Studie erfassen wir, inwiefern die Teilnehmenden erwarten, sich zugehörig oder ausgegrenzt zu fühlen, kompetent zu sein oder frei entscheiden zu können.
Frage 6: Welche Erkenntnisse haben Sie bisher aus der Forschung gewonnen?
In der EASI-Studie fanden wir es besonders spannend, dass die Erwartung, das Bedürfnis nach Autonomie könnte frustriert werden, die Motivation am stärksten beeinträchtigt hat. Das Gefühl, in einer sozialen Situation nicht frei entscheiden zu können, was man tut, war für viele Menschen besonders aversiv, also unangenehm. Dieses Muster zeigte sich sowohl bei gesunden als auch bei depressiven Menschen. Zugehörigkeit spielte natürlich auch eine Rolle, aber die Autonomie war hier besonders ausschlaggebend. Wobei wir hier mir Rückschüssen noch vorsichtig sein müssen, da dies momentan noch erste, unpublizierte Ergebnisse sind.
Frage 7: Wie könnte man die Forschungsergebnisse perspektivisch im therapeutischen Kontext oder im Alltag anwenden?
Da sehe ich mehrere Ansatzpunkte. Zum einen könnte man systematisch diese kognitiven Verzerrungen erfassen. Das bedeutet, bei der Verhaltensaktivierung könnte man zusätzlich nach der Imagination fragen: „Was glaubst du, wie wird es?“ Und nach der Aktivität dann: „Wie war es wirklich?“
Frage 8: Was genau ist Verhaltensaktivierung?
Verhaltensaktivierung basiert auf der Idee, dass depressive Symptome auch dadurch aufrechterhalten werden, weil Betroffene wichtige Aktivitäten vernachlässigen. Das Ziel ist, durch die schrittweise Wiedereinführung dieser Aktivitäten die Stimmung zu verbessern. Dabei handelt man oft nach dem Motto „Verhalten nach Plan statt nach Stimmung“, weil depressive Menschen eben häufig Schwierigkeiten in der Umsetzung von Aktivitäten haben. Diese geplanten Aktivitäten ermöglichen dann wieder positive Erfahrungen.
Frage 9: Welche weiteren Anwendungsmöglichkeiten sehen Sie?
Man könnte die Verhaltensaktivierung stärker auf die individuellen Bedürfnisse ausrichten. Zum Beispiel, wenn jemand ein starkes soziales Netz hat, aber wenig Autonomie erlebt, könnte man gezielt Aktivitäten wählen, bei denen die Person mehr Selbstbestimmung erfährt. Oder man trainiert soziale Kompetenzen, damit Betroffene ihre eigenen Bedürfnisse klarer ausdrücken können. Derzeit wird das manchmal bereits auf Basis von Werten gemacht, aber Werte sind oft eher kognitiv und manchmal unausgewogen. Bedürfnisse hingegen sind meiner Meinung nach näher am tatsächlichen psychischen Wohlbefinden.
Eine weitere Möglichkeit wäre, Verhaltensaktivierung mit Imagination zu kombinieren, um die Motivation zu steigern. Anstatt nur Aktivitäten zu planen, stellen sich die Patienten diese gleich im Therapieraum vor, um motivierter zu sein. Es gibt sogar Studien, die untersuchen, wie es sich auswirkt, wenn Patienten sich die geplanten Aktivitäten regelmäßig zu Hause vorstellen, bevor sie sie umsetzen.
Frage 10: Wie läuft die Studie eigentlich ab?
Die Studie startet mit einem ersten Teil, der ungefähr eine halbe Stunde dauert. Die Teilnehmenden füllen dabei einige Fragebögen aus, damit wir einschätzen können, wer sie sind und welche Symptome sie eventuell haben. Danach erklären wir, was Verhaltensaktivierung ist und warum man das macht. Der nächste Schritt ist, dass die Teilnehmenden für die kommende Woche vier soziale Aktivitäten planen, möglichst konkret und am besten schon mit Terminen, auch wenn sie nicht daran gebunden sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass man die Aktivitäten umsetzt, ist einfach höher, wenn sie genau geplant sind.
Zu jeder dieser Aktivitäten führen die Teilnehmenden eine standardisierte Imaginationsübung durch. Nach jeder Imaginationsübung fragen wir die Teilnehmenden, wie sie glauben, dass die Aktivität verlaufen wird und wie motiviert sie dafür sind. Damit ist der erste Termin abgeschlossen. Dann folgt die sogenannte „Aktivitätenwoche“. Das bedeutet, dass die Teilnehmenden einmal am Tag eine E-Mail bekommen, in der sie gebeten werden, an einer kurzen Befragung teilzunehmen. Der Fragebogen fragt, ob sie eine der geplanten Aktivitäten umgesetzt haben, und falls nicht, ob sie andere soziale Aktivitäten durchgeführt haben.
Nach dieser Woche folgt eine Nachbefragung, die nur vier Minuten dauert. Und einen Monat später gibt es eine weitere vierminütige Befragung, um zu sehen, wie sich die Situation entwickelt hat. Insgesamt ist das also eine halbstündige erste Befragung, dann eine Woche lang kurze tägliche Fragebögen von etwa zwei Minuten und zwei Nachbefragungen von jeweils vier Minuten. Alles ist flexibel online machbar und gut in den Alltag zu integrieren.
Frage 11: Was für einen Nutzen können die Teilnehmenden aus der Studie ziehen?
Wir können keine konkreten Ergebnisse versprechen, aber unser Ziel ist es, dass die Teilnahme möglicherweise eine Steigerung sozialer Aktivitäten fördert. Unabhängig davon, ob die Teilnehmenden tatsächlich Aktivitäten umsetzen, können sie nach Abschluss der Studie eine Rückmeldung zu den Aktivitäten bekommen. Besonders interessant ist vielleicht die Rückmeldung, inwiefern es bei ihnen eine Erwartungsverzerrung gab – also ob ihre Erwartungen vor der Aktivität mit der Realität übereinstimmten. Das kann auch zu interessanten Einsichten über sich selbst führen. Zusätzlich bieten wir eine Entspannungsübung als MP3 zum Download an und die Teilnehmenden können an einer Verlosung von 25-Euro-Gutscheinen teilnehmen.
Frage 12: Wer kann teilnehmen und was ist Ihnen bei der Teilnehmerrekrutierung wichtig?
An der Studie können Personen teilnehmen, die die deutsche Sprache beherrschen und mindestens 18 Jahre alt sind. Sie sollten in der Lage sein, Audios auf ihrem Gerät abzuspielen.
Weiterhin sind Teilnahmevoraussetzungen, dass derzeit depressive Symptome erlebt werden, jedoch keine akute Suizidalität besteht und sie sich nicht in psychotherapeutischer Behandlung befinden. Zudem sollten in den letzten vier Wochen keine Drogen konsumiert oder eine medikamentöse Behandlung wegen einer psychischen Erkrankung begonnen oder verändert worden sein.
Ein Anliegen der Studie ist es, möglichst vielfältige Teilnehmer*innen zu erreichen. Oft rekrutieren psychologische Studien hauptsächlich Studierende, aber das wollen wir aktiv vermeiden. Deshalb haben wir deutschlandweit Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen kontaktiert, um Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen anzusprechen. Bisher läuft das sehr gut, und unser Altersdurchschnitt liegt aktuell bei 37 Jahren, was für psychologische Studien eher selten ist. Dadurch trägt jede teilnehmende Person dazu bei, die Psychotherapieforschung repräsentativer für die Allgemeinbevölkerung zu gestalten.
Frage 13: Wo findet man Informationen über das Projekt, wenn man selbst teilnehmen möchte?
Man kann direkt den Studienlink nutzen. Es gibt auch eine Studienwebsite, auf der man mehr über mich, den Projektleiter Professor Hoyer und das Projekt selbst erfahren kann. Wir sind außerdem auf Instagram aktiv, falls das für jemanden interessant ist.
Studienlink: https://redcap.link/wiva
Webseite: https://tu-dresden.de/mn/psychologie/ikpp/behavioralpsy/forschung/wiva-studie
Instagram: @wiva_studie_easi_studie
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Wir danken Max Ziem sehr herzlich für das Gespräch!